Märchen-Kinder-Schule
Märchen – Kinder – Schule
Sonderausstellung im Lohrer „Fischerhaus“ vom 17.5.2013 bis 9.6. 2013
„Das Märchen ist ursprünglich die aus dem entschwindenden Mythos mündlich sich fortpflanzende Erzählung (...) Alle phantasievollen Völker sind reich an Märchen, und in den Märchen fast aller Nationen sind gewisse verwandtschaftliche Grundtypen nicht zu verkennen." (Aus: Brockhaus´sches Conversations-Lexikon für den Handgebrauch, Dritter Band, Leipzig, F. A. Brockhaus, 1855)
Bis weit ins 18. Jahrhundert waren Märchen, vor allem in ländlichen Gegenden, eine übliche Form der Abendunterhaltung, insbesondere für die Erwachsenen. In szenenhafter und verschlüsselter Darstellungsweise wurden menschliche Probleme und Konflikte erzählt.
Als 1812 von dem Berliner Verleger Reimer das Buch „Kinder- und Haus-Märchen gesammelt durch die Brüder Grimm“ herausgegeben wurde, sollte es eigentlich ein wissenschaftliches Werk sein. Drei Jahre später gaben die Grimms im Vorwort zur zweiten Auflage ihrer Hoffnung Ausdruck, dass „ein eigentliches Erziehungsbuch daraus werde.“, und waren offensichtlich erfolgreich, denn im „Handwörterbuch für den Deutschen Volksschullehrer“ aus dem Jahr 1874 heißt es u.a.: „Die Märchen sind derjenige Zweig der volksthümlichen Literatur, der bis jetzt in der Volksschule am Meisten gepflegt worden ist. Seit die Gebrüder Grimm dem deutschen Volke seinen Märchenschatz von Neuem erschlossen haben, findet das Märchen die ihm gebührende Vertretung.“
Aber erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzten sich die Märchen als fester Bestandteil der Lesebücher durch, vor allem, weil immer mehr engagierte Lehrer in den Märchen einen hohen moralischen Anspruch entdeckten, den es für die Erziehung im Sinne der damaligen wilhelminischen Zeit zu nutzen galt. Welche Erkenntnisse sich aus den Märchen ableiten ließen, wird z.B. im „Encyklopädischen Handbuch der Pädagogik“ aus dem Jahr 1906 deutlich: „Diebstahl, Betrug, Ungehorsam, Falschheit, Neid, Haß, Habgier, Geiz, Lüsternheit und andere Sünden werden streng geahndet. (...) Zur Pflege der mittelbaren (bürgerlichen) Tugenden wie Fleiß, Ordnungsliebe, Sauberkeit, Höflichkeit und allen anderen Dingen, die man zu Anstand und guter Sitte rechnet, geben die Märchen Veranlassung.“
Hinzu kam noch, dass sich auch allgemeine Lebenserfahrungen der Kinder wie Verlust und Tod, Hochzeit und Geburt, Markttreiben, Handwerk oder bäuerliche Arbeit leicht mit der unterrichtlichen Behandlung von Märchen verbinden ließen.
In der Folgezeit traten aber auch zusehends weltanschauliche und politische Aspekte in den Vordergrund. Diese Entwicklung fand ihren Höhepunkt im Dritten Reich. Besonders deutlich wird in der Ausstellung die ideologischen Verformung anhand des Schulwandbildes „Dornröschen“ aus dem Jahr 1936, auf dem die Spindelverbrennung der Bücherverbrennung gleichgesetzt und die schlafende Prinzessin von einem Prinzen in SA-Uniform mit dem Hitlergruß geweckt wird.
Nach dem Ende des Dritten Reichs wurden die Märchen deshalb als völkisch-braunes Gedankengut aus den Schulen verbannt, erfuhren aber schon in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Renaissance. Erschreckt durch die schlimmen Erfahrungen im Dritten Reich zog sich, gleichsam wie in der Biedermeierzeit des 19. Jahrhunderts, ein Großteil der deutschen Bevölkerung aus der Politik in ein beschauliches, kleinbürgerliches Privatleben zurück, zu dem die Märchen mit ihren einfachen und unpolitischen Inhalten eine gute Ergänzung, auch im Schulwesen, bildeten. Zunehmend wurden die Märchen nun auch vermarktet und als Werbeträger eingesetzt, eine Entwicklung, die sich gerade heute noch verstärkt.
Mit dem zusätzlichen Thema „Warum hast Du so ein großes Maul?“ - „Rotkäppchen - Märchen und Politsatire“zeigt die Ausstellung, dass Märchen, ähnlich den Fabeln, oft auch dazu verwendet wurden, um zeitgenössische gesellschaftlich-politische Vorgänge zu karikieren bis hin zu einer versteckten Form des Widerstandes.
(Eduard Stenger - Leiter des Schulmuseums Lohr am Main)
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